Labsal für gestresste Deutsche: Vor 125 Jahren begeisterte ein Drama im Felslabyrinth die Zuschauer Wie das Theater auf der Luisenburg begann

Von Michael Weiser

Die Luisenburg-Festspiele sind  das größte Freiluft-Theaterfestival Deutschlands. Ihre Geschichte reicht 125 Jahre zurück, bis zum Volksschauspiel „Die Losburg“: Ein Sensationserfolg. Auch, weil die Deutschen damals anders  tickten.

 
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Wer sich im Sommer 1890 von den großen Städten aus, von Berlin, München oder Dresden, auf den Weg ins Fichtelgebirge gemacht hatte, der konnte sich auf ein einzigartiges Spektakulum freuen. Wo sonst gab es auf einer Bühne unter freiem Himmel ein solches Theater zu sehen? Mit Sagen aus längst vergessener Zeit, kernigen Gestalten mit Namen wie „Wolfsdarm“ oder „Kühfraß“, tragischen Figuren wie Tannhäuser, Seherinnen, Helden und Königen. Außerdem gab es Wichtel in großer Anzahl zu bestaunen. Und vor allem eine großartige Hauptdarstellerin: die Natur rund um Wunsiedel, die bereits Geister wie Goethe und die schöne Preußenkönigin Luise fasziniert hatte.

Dunkle Wolken am Himmel
 überm Deutschen Reich

Kurz, das Volksschauspiel „Die Losburg“ wurde zu einem Erfolg, von dem die Welt vernahm. Sogar in den fernen Vereinigten Staaten berichtete man über das Drama in den Bergen Oberfrankens.

Geschrieben von Ludwig Hacker für eine beachtliche Zahl von Laiendarstellern aus Wunsiedel, avancierte „Die Losburg“ wurde das Drama im hölzernen Freilufttheater ein Erweckungserlebnis für Hunderte Zuschauer. Man muss annehmen: Nicht unbedingt wegen der Qualität des Dramas, die mit „holzschnittartig“ noch mild umschrieben wäre.

Die Gründe für die Beliebtheit des Spiels lagen vielmehr tief in der Befindlichkeit der Deutschen. Das deutsche Geschichtsdrama über die Losburg sagt nichts über die Geschichte der Deutschen aus. Dafür aber sehr viel über die Gegenwart damals, im Jahre 1890. Und die war unübersichtlich.

Die zerissene Gesellschaft

Deutschland 1890, zwanzig Jahre nach der Einigung: Einerseits ist das Reich nun eine Realität, an die man sich gewöhnt hat, ein wenn auch eilig und mit einiger Gewalt gezimmertes gemeinsames Haus, das man langsam auch mit eigenen Erinnerungsstücken einrichtet. Die Bayern zum Beispiel. Sie haben lange mit dem vom protestantischen Preußen dominierten Reich gefremdelt, vor allem die Katholiken. Nun, zwei Jahrzehnte nach Krieg und Einigung, hat man sich arrangiert. Was sich zum Beispiel darin zeigt, dass man bei offiziellen Anlässen nicht mehr nur den bayerischen König, sondern endlich auch den deutschen Kaiser preist. Man ist nicht mehr nur Bayer oder Franke, man ist auch Deutscher.

Andererseits misstraut man der Zeit. Die Welt ist noch mal ein Stück wirrer geworden, die Industrialisierung und die politischen Umwälzungen des so genannten langen 19. Jahrhunderts haben die Menschen in ganz Europa tief verunsichert. Deutschland aber ist in besonderem Maße hin- und hergerissen.

Das junge Reich ist ein Senkrechtstarter, es ist auf dem Weg zur ersten Wirtschaftsnation Europas, führend in Wissenschaft und auch der modernen Kunst. Doch längst nicht alle finden Platz im Fahrstuhl zur Moderne. Irgendetwas ist aus dem Gleichgewicht geraten, man fühlt es und sieht es und misstraut der Zivilisation, so wie schon Richard Wagner. Und der Gründerkrach, die Wirtschaftskrise nach dem Triumph gegen Frankreich, hat viele Existenzen ruiniert. Die Hektik moderner Zeiten, die Unübersichtlichkeit des Lebens, der rasende Wandel überfordert die Leute, die sich nach dem Hämmern der Maschinen und dem Dröhnen des Verkehrs unbedingt nach Stille sehnen.

Und dann ist da die Großwetterlage. Am Himmel über Deutschland ziehen Wolken auf. 1890 ist der Architekt des neuen Reiches abgetreten. Mit Bismarcks Abgang fällt seine Bündniskonstruktion in sich zusammen. Es wird einsam um das Reich. Man sieht sich weitgehend allein in einer Welt von Feinden. Der Krieg: Er wird kommen, unausweichlich. Das glauben die Deutschen. Sie wissen nur nicht, wann.

Hoffnung für Deutschland

Der Wald ist das große schweigende Biotop der deutschen Seele. Nun erhofft man sich vom dunklen Forst Linderung und Selbstvergewisserung. Und mehr Wald als an der Luisenburg ist kaum vorstellbar. Alles, was man sich von Natur ersehnen kann, das gibt es hier. Starke Eindrücke, große Bilder. Ruhe, endlich Ruhe. Vorteilhaft für alle Zivilisationsflüchtlinge: Man gelangt auf gut ausgebauten Wegen dorthin und ist auch schnell wieder fort. Das große Gegenbild zur Moderne mit all ihren Zumutungen kann – dank der Segnungen der neuen Zeit – mit einem Sommerausflug und ein, zwei Übernachtungen angepeilt werden. Eigentlich ist die Länge der Reise nicht wichtig: Man reist ja heim, in die Urgründe seiner Seele. Sogar Fürsten begeben sich auf die Wallfahrt in die fränkische Provinz. Wenn in Hackers Drama sogar Tannhäusers Pilgerstab wieder frische Triebe treiben kann – dann muss Hoffnung auch für Deutschland sein.

Die Kritiker sind denn auch begeistert von dieser berauschenden Mischung aus Natur und Nationalgefühl. „Ein kerndeutsches Volksschauspiel auf einer Naturbühne ohnegleichen“, hat einer der Beobachter gesehen. Religion und treudeutsche Rechtsprechung unter freiem Himmel, etwas „Altgermanisches“, das rührt einen anderen. „Unter den Weiheklängen einer erhaben feierlichen Musik in des Felsenwaldes feierlich ernster Stille „ sieht sich ein Hauptstädter „auf der einstigen uralten Kultstätte selbst in die Tage unserer Urväter zurückversetzt“.

Max Reinhardt soll lernen

Die Journalisten aus den Metropolen loben das Luisenburg-Spiel auch, um die führenden Theaterleute ihrer Zeit zu kritisieren. Der Erfolg des Freilufttheaters „erklärt sich zum großen Teil aus dem Umstand, daß auf den Rampenlichtbühnen der Großstädte sich zu gleicher Zeit eine von wahrer Kunst sich immer weiter entfernende Unnatur breit machte, die gerade in den gebildeten Kreisen unseres Volkes als starke gesunde Gegenströmung ein immer tieferes Verlangen und Drängen zu reiner Natur wachrief“, schreibt "Losburg"-Autor Ludwig Hacker selbst. Die Kritiker sind seiner Meinung. Max Reinhardt, der große Max Reinhardt: Er solle nach Wunsiedel kommen. Um zu lernen, wie man’s richtig macht.

Reinhardt lernte übrigens, 1910 inszenierte er den „Sommernachtstraum“ in Oberbayern unter freiem Himmel. Ein Mitwirkender benannte sich nach dem Ort dieser legendären Aufführung, Friedrich Wilhelm Plumpe, besser bekannt als Friedrich Wilhelm Murnau. Er sollte als Regisseur des Stummfilms „Nosferatu“ weltberühmt werden. Aber das ist eine andere Geschichte.

Dass unsere Enkel als freie Männer sterben

Die Erfolgsgeschichte von Wunsiedel setzte sich fort. Und wurde dabei immer wieder umgeschrieben. 1913 ließ man, in Erinnerung an die Befreiungskriege gegen Napoleon, das Lützowsche Freikorps aufmarschieren, gesegnet vom Geist der Preußenkönigin Luise. Sie hatte dem Felslabyrinth 1805 einen Besuch abgestattet, das seitdem ihren Namen trägt. Und im Stück ist sie so etwas wie Deutschlands guter Geist.

Die Szene mit den Freischaren verherrlicht den Dichter und Feuerkopf Theodor Körner, der 1813 – bei einem Einsatz nahe Hof – sein Leben verloren hatte. In der Luisenburg sprach sein Darsteller die Worte, die den Deutschen nach dem Ersten Weltkrieg noch Trost spenden sollten: „Tief führt der Herr durch Nacht uns und Verderben. Nun sollen wir im Kampf das Heil erwerben. Dass unsere Enkel (als) freie Männer sterben.“

In der Textausgabe von 1925 sind diese Worte gefettet. Dass die Deutschen im Kampf kein Heil mehr erwerben, dass sie nicht nur von Luise, sondern von allen guten Geistern verlassen sein würden, dass die Freiheit den Enkeln schließlich die Gegner des nächsten Krieges bringen würden: Das konnte damals niemand ahnen.

Luisenburg: Geschichte im Überblick

1557: Erstmalige Erwähnung von Comödiespielen von Lateinschülern

1790 - 1820: Erschließung des Felsenlabyrinths. Besuche durch Goethe und die preußische Königin Luise.

1881–1884: Schüleraufführungen des Wunsiedler Realschulprofessors Hacker.

1890: Erstaufführung des „Losburg-Festspiels“ von Ludwig Hacker aus Anlass des Jubiläums der Erschließung des Labyrinths. Im Freilichttheater haben 1000 Zuschauer Platz.

1912: Errichtung einer steinernen Tribüne mit 1240 Sitzplätzen und Überdachung; Einrichtung der unterirdischen Garderobenräume.

1914: Erste Künstlerfestspiele auf der Luisenburg unter Hofschauspieler Fritz Basil, München, mit „Sommernachtstraum“ und „Iphigenie“.

1924/25: Letzte Aufführung des „Losburg Festspiels“. Im Jahr darauf wieder Künstlerspiele – seitdem nur noch Profitheater auf der Luisenburg.

1937: Erstmals 100 000 Besucher in sieben Inszenierungen. Im Jahre 2014 zeichnet seit elf Jahren  Intendant Michael Lerchenberg verantwortlich. Der Zuschauerschnitt liegt bei 138 000.